Mittsommerland

STINE

Sie streckte sich auf den Stelzen, drückte den Knopf, um das CD-Fach zu öffnen und legte Bloc Party ein. Etwas Düsteres für diesen magischen Abend. Sie mochte den Sänger auf eine zarte Weise, obwohl sie seine Großmutter hätte sein können. Die ersten bedächtigen Gitarrenriffs waberten in den Schankraum von Ingos Ecke und mischten sich unter die bierdunstigen Gespräche der Gäste, hauptsächlich rotgesichtige Männer, die das Wochenende in Alkohol ertränkten, als wäre es ein Geschwür, das es auszumerzen galt.
Musik, dachte sie, in den Abwasch hoher Gläser versunken, war ein Mysterium. Die einzige Magie, die auch Menschen beherrschten, ohne je zu erfahren, mit welcher Macht sie spielten. Egal, wie die Welt sich veränderte, Musik war das, was roh und ursprünglich blieb.
„He, Lili!“ Das war nicht ihr Name. „Zwee Pils, Lili!“ Sie hieß Stine. Lili war die Abkürzung eines Spitznamens, den ihr ein betrunkener Gast an ihrem zweiten Arbeitstag verpasst hatte. Vor dreißig Jahren. Damals hatte sie es, unwissend wie sie war, als Kompliment aufgefasst, und gelächelt, dass sie gemocht wurde. Bis – sie erinnerte sich genau an die Szene – eine kraushaarige Frau die Trunkenbolde ihretwegen zur Schnecke gemacht hatte. Und zum Dank ein Bier „aufs Haus“ verlangt hatte. Nicht, dass es die Leute davon abgehalten hatte, sie weiterhin so zu nennen. Nur das Lächeln war seitdem von Stines Lippen verschwunden.
Sie stakste auf den an ihre Waden geschnallten Stelzen zu den frisch gespülten, umgestülpten Biergläsern und begann wortlos zu zapfen. Mit den Stelzen kam sie gerade eben an die Hähne heran, ihre kurzen Arme aber reichten nicht bis zum Tresen. Der Mann musste ihr die Gläser abnehmen, und grinste dabei. „Schönen Dank auch, Lili. Aber Scheißmucke. Haste nüscht Netteres?“
„Meine Theke, meine Mucke.“ Stines Stimme war rau von jahrelangem Passivrauchen und Trinkgelagen. Früher hatte sie es geliebt, zu singen – große Güte, wie hatte sie singen können! Doch was ihr von damals blieb, waren nur noch Äußerlichkeiten: rotblondes Haar, das in einem strammen Flechtzopf bis zum Po fiel, und ein wettergegerbtes schlaues Gesicht, obwohl sie sich selten an der Sonne aufhielt und ihr Verstand an ihrem Arbeitsplatz nicht unbedingt herausgefordert wurde.
Hinter dem Betrunkenen tauchten zwei Gestalten auf und beanspruchten seinen Platz am Tresen. Stine nickte zum Gruß, als Tjure und Birk sich auf zwei Barhocker plumpsen ließen. Sie zapfte beiden ein Bier, stemmte die Hände in die Hüften und sah sie abwechselnd an. „Euch ist etwas über die Leber gelaufen.“
Birk, der kleinere, stämmigere von ihnen, zuckte mit den Schultern. „Alva …“, sagte er nur und wurde ein wenig durchsichtig, wie ein Chamäleon, das sich seiner Umgebung anpasst. Tjure mit den Katzenaugen nippte an seinem Bier und leckte sich mit der dunklen Zunge den Schaum von der Oberlippe, bevor er auf Stines fragende Miene antwortete. „Ich fürchte, Alva … hat ihre Entscheidung getroffen.“
Stine schloss die Augen. Stille, als wäre für ein paar Augenblicke die Lautstärke heruntergedreht worden, senkte sich über den Kneipenraum. „Ich kann nicht sagen, dass ich sonderlich überrascht bin“, sagte sie und verscheuchte die Stille. „Vielleicht ist sie trotz allem mutiger als wir. Als ich meine Heimat verließ, hatte ich keine Angst zu gehen. Mein Volk war längst über alle Berge – oder darunter. Aber ich hatte es mir anders vorgestellt in der Stadt. Die Kälte von totem Stein ist eine viel tiefer gehende als die der Berge. Sie greift nach dem Geist, versetzt ihn in Kältestarre, und langsam vergeht die Magie.“
„Wir haben keinen Anspruch auf ein Leben, wie es unsere Vorfahren gelebt haben“, sagte Tjure mit harten Augen. „So wie die Zeit die Menschen verändert, ist es mit uns geschehen. Wir müssen das beste daraus machen. Ein inneres Feuer entzünden!“
In das Schweigen setzte Kele Okerekes Stimme wieder ein. Einmal mehr fragte sich Stine, ob er nicht einer von ihnen war.
We sit and reminisce about the past. And in her voice, only sadness …
Birk blickte in sein Bierglas. „Alva hat nie begriffen, dass sie sich ihre Heimat neu suchen musste. Sie dachte, sie würde zurückkehren in den Schoß der Wälder, in die Obhut der Ahnen …“
„Vielleicht hat sie einen Weg dorthin gefunden.“
In every headline we are reminded that this is not home for us. In every headline we are reminded that this is not home for us …
„Machst du mir was Starkes, Stine? Für das innere Feuer.“

BIRK

„Habt ihr die Apfelkirschlimo von fritz nicht da?“
Birks Kopf schob sich hinter dem Tresen herauf und musterte die junge Frau vor dem Kühlregal. Das braune Haar zu einem nachlässigen Dutt auf den Kopf gehoben, knappe weiße Shorts, in denen glatte sonnenverbrannte Beine steckten und ein löchriger Stoffbeutel über der rechten Schulter, in dem sie eine überdimensionierte Sonnenbrille verstaute.
„Bisschen dunkel isses hier. Kann gar nicht erkennen, ob das Melone oder Apfelschorle ist.“ Sie nahm zwei Flaschen in die Hand und inspizierte sie im trüben Licht, das durch die heruntergelassenen Jalousien drang. Birks erdbraune Augen folgten ihren Bewegungen.
„Apfelschorle. Melone wirst du hier nicht finden, auch kein Apfelkirsch. Nimm die Schorle oder lass es bleiben. Aber beeil’ dich, ich schließe den Laden.“
Birks Kopf verschwand wieder hinter dem Tresen. Er hatte versprochen, bei Alva vorbeizuschauen.
„Hallo? Steht da draußen nicht Spätkauf?“
„An allen Tagen. Nur heute nicht.“
„Na, ich kenne auch ‘n anderen Laden, wo sie die Apfelkirsch haben.“
Schritte, dann das feine Glöckchenklingeln, als die Tür geöffnet wurde und ins Schloss zurück fiel.
Birk richtete sich langsam auf, als befürchtete er, die Frau sei noch im Laden. Er war kurzbeinig, aber das Schlangennest aus grünen Dreads auf seinem Kopf ließ ihn imposant erscheinen. Behände wie eine Bergziege sprang er über den Tresen, stapfte durch die Tür und schloss ab. Er sah die junge Frau im Spätkauf vier Häuser weiter verschwinden, dort, wusste er, hatten sie nur die fritz-kola.
Auf der Straße, die beißende Sonne im Nacken, wühlte Birk in den Taschen seiner flickenreichen Pluderhose, ein Sack von einem Kleidungsstück, das seine nackten Zehen verbarg. Er zog einen Münzenhügel heraus, den er von einer Hand in die andere zählte: Achtzehn Euro. Das reichte für seine Zwecke. Die Münzen klimperten zurück in die Hosentasche und Birk blinzelte in Richtung Park. Er brauchte Dope, bevor er Alva traf.

Hinter dem Tor, dem Eingang zum Park, warteten sie auf Kundschaft, die schwarzen Jungs, die er einen nach dem anderen per Handschlag begrüßte. Der letzte in der Reihe nickte und bedeutete Birk, ihm zu folgen. Zwischen Büschen und Bäumen tauschten sie Metallisches gegen Organisches.
„You want anything more? I give you best stuff …“
„Ne, lass mal.“ Birk hatte sich durch alle erdenklichen synthetischen Substanzen probiert und war immer wieder zum Dope zurückgekehrt. Er war in einem Baum geboren worden, einer jungen, biegsamen Esche, an der er seine Kräfte gemessen und in die er seinen Namen geritzt hatte. Die er, egal von welchem Wipfel des Waldes er blickte, ohne zu zögern wiederfand. Die ein gewaltiger grüner Riese geworden war, als man sie fällte und Birk seine Heimat verließ. Er stopfte das Tütchen Gras in seine Hosentasche. Pflanze liebte Pflanze, so einfach war das.
Ein Ruf unterbrach die Erinnerungen, in die sich Birk ungewollt verirrt hatte, brachte ihn zurück in die Stadt, in den staubigen Park. „Police!
Die Warnung war kaum lauter als ein Flüstern, aber Birk erstarrte fast zum Baumstumpf. Dunkelblaue Flecken bewegten sich hinter den Büschen, der Pusher sah ihn an. Kurzerhand packte Birk ihn und drückte ihn gegen einen Baum.
„What the –!“ Bevor er den Satz beenden konnte, versanken Rücken und Hinterkopf des Mannes im Baum. Er wollte sich losstrampeln, doch Birk war stärker. Das Gesicht, eingerahmt von Borke, eine schreckerstarrte Fratze – dann war es verschluckt, Arme, Brust, Beine verschwanden keine Sekunde später. Knackend und knirschend schloss sich die Borke zu einer nahtlosen Oberfläche. Birk trat zurück. Eine Buche, achtzehn Jahre und fünfundzwanzig Tage alt. Sie schüttelte sich sacht von den Wurzeln bis zur Krone, dann war sie still. Mit geschlossenen Augen tastete Birk über die Rinde und bohrte ein Loch hinein, bis er auf warme Haut traf. Er kitzelte die Lippen des Mannes, dass er den Mund öffnen solle, um zu atmen. Im Schatten der Borke schnappte ein Lippenpaar auf und zu. „Ich komme wieder“, sagte Birk.

Den schwitzenden Polizisten mit den dummen Augen, die ihm entgegenkamen, nickte er zu, und schob sich auf den Weg zurück. Auf dem schmalen Streifen Park pfiff er ein Liedchen, das sie an diesem Tag viermal im Radio gespielt hatten, und machte sich daran, eine Tüte zu bauen.
Der erste Zug war göttlich. Der magische Rauch brachte ihn zurück in die Vergangenheit, in die Wälder, an dunkelblaue Seen, zu Birke, Espe, Kiefer, Lärche und Fichte, Heidelbeere, Siebenstern und Moosglöckchen, zu Fuchs und Hase, Otter, Rentier und Bär, und zu seiner Esche.
Er liebte die Seelenwanderungen auf dem magischen Rauch, mehr noch als tatsächlich dort zu sein. Wenn Alva ihm vorwarf, seine Abstammung zu verraten, die Magie zu verlieren, stellte er fest, dass sie recht hatte, aber vor allem, dass es ihm egal war. Er war ein Migrant aus Mittsommerland, bereit sich in die Gesellschaft einzufügen.

Der Blumenladen befand sich in einer der Nebenstraßen hinter dem Park. Links und rechts der Gehwege ragten unsanierte Altbauten auf, bewohnt von dem jungen Volk, das mit seinem Enthusiasmus und seiner unerschütterlichen Unbekümmertheit der Stadt ihren Charakter gab, Menschen, nach denen Birk sich sehnte, die ihn genauso faszinierten, wie er sie faszinierte. Sie gaben ihm Realität und er gab ihnen Märchen, wobei, das gab er zu, diese immer weniger wurden.
Er war seit dreizehn Tagen nicht mehr bei Alva gewesen. Sie führte ein kleines Blumengeschäft, das überwiegend Nachtschattengewächse anbot. Doch seit dem Ende der kalten Monate, als sie mit den Tieren aus dem Winterschlaf erwacht war, schottete sie sich mehr und mehr ab. Sie vernachlässigte ihre nächtlichen Spaziergänge und verließ den Laden nicht mehr, um Birk und die anderen zu treffen. Stattdessen trieb etwas in ihr die Pflanzen zu abnormem Wachstum an.
Birk ahnte, dass er Alva in keinem guten Zustand vorfinden würde, doch die fortgeschrittene Verwilderung, das aus allen Nähten platzende Grün, erschütterte ihn. Das Schaufenster des Blumenladens ähnelte mehr denn je einem Aquarium, Moos wuchs in den Ecken wie dickes Fell, die Monstera deliciosa, ein Regenwaldgewächs mit riesigen Blättern, hatte es geschafft, bis zur Scheibe zu kriechen, und alles andere, das sich dahinter tummelte, drängte auf der Suche nach Licht nach vorne. Durch einen Spalt im Oberlicht der Tür schlängelte eine Ranke, ertastete die Luft und die Hauswand. Birk wurde Zeuge, wie ein Märchen die Realität eroberte. Der Joint fiel ihm aus der Hand.
Als er die verzogene Tür aufdrückte, hatte er das unerträglich ziehende Wissen im Bauch, dass er zu spät kam. Er fand Alva nach mühseliger Suche. Das, was von ihr übrig war. Und vergaß den Mann in der Buche.

ALVA

Wie viel Zeit ist vergangen? Die Grenze zwischen Wachsein und Traum ist verloren. Wenn ich die Augen öffne – Dunkelheit. Wenn ich sie schließe – Dunkelheit. Die Grünen, sie wachsen unermüdlich. Ich ernähre sie mit der Kraft, die ich nicht mehr brauche, dort, wo ich hin will. Kommt der Junge heute wieder? Wenn er kommt, bringt er Aufregung mit, viele Worte und Helligkeit. Ich verkrieche mich tiefer in die Dunkelheit. Die Arme haben Lianen umschlungen und sich mit ihnen vermischt, Fleisch und Pflanze sind eins. Grüner, kühler Saft pulsiert in meinen Gefäßen. Der Rücken ist gegen die Wand gepresst, da, wo ich Schutz gefunden habe. Doch die Wand lebt. Es ist etwas auf ihr gewachsen, das sich ganz langsam auf mich überträgt, sich verbindet, mit abertausenden winziger Zähnchen meine Haut frisst. Es tut gut, das Gefühl der Auflösung. Ich dränge mich weiter gegen die Wand, lasse die Grünen mein Gesicht bedecken. Hier ist es kühl, dunkel, beschützt, verborgen …
Etwas hat sich verändert, ganz vorne im Raum, wo er in Helligkeit übergeht.
„Alva?“
Was ruft er? Ist er ein Vogel? Ich schließe die Augen. Ich öffne sie wieder, als etwas mich berührt. Die Stimme ganz nah. Bewegungen vor mir, eine Form, die ich kenne, deren Namen ich einmal wusste … Lass mich schlafen, junger Vogel. Die Alben sind alle tot, lass mich schlafen.

TJURE

Tjure lebte hinter einer Stahltür, die sich in das Backsteingemäuer einer Bahnüberführung schmiegte, in einer winzigen Wohnung mit Blick auf die Spree. Hier hackte er sich auf einem fossilen Rechner in wichtige Server ein und machte sich einen Spaß daraus, brisante Informationen in von ihm entwickelte Online-Spiele einzuarbeiten. Eine Arbeit, die gutes Geld brachte und nebenbei seinen anarchischen Sinn befriedigte. Stine misstraute seiner Fähigkeit sich so spielerisch in die Mathematik und die Physik, diese menschlichen Materien, einzufinden, und wollte nicht begreifen, dass Magie Zugang zu allen menschlichen Geheimnissen fand.

Es war der Abend des 21. Junis. Auf und unter der Brücke tummelten sich die Wochenendabenteurer, die vollgepumpt mit Glückssubstanzen den Zauber der Nacht erkundeten, und Tjure kehrte heim. Ein Wind kam ihm entgegen, auf dem die Mittsommermagie ritt, und zerzauste ihm das zottelige Haar. Mit der Magie brachte der Wind Erinnerungen, wie Lockrufe, aus dem Norden mit.
Heute war die einzigartige Nacht, die das Schicksal verändern mochte und die Verwandtschaft zwischen Menschen und dem Alten Volk an die Oberfläche spülte. Doch heute hatten sie kein Feuer entzündet, waren nicht in die Spree gesprungen, hatten keine Wünsche erfüllt. Seit heute fehlte eine von ihnen. Sie waren nur noch zu dritt. Früher waren sie elf gewesen, einstmals unzählige.
War die Zeit, in der sie lebten, die Abenddämmerung der Magie? Löschte die Welt den Stoff aus, der sie lebendig machte? Trieb Tjure selbst sie womöglich in den Tod, indem er sie der digitalen Illusionen zuliebe verdarb? Tjure fischte eine Zigarette aus seiner Jeansjacke, zündete sie an, und blies mit dem Rauch die unheilvollen Gedanken in den dunstigen Himmel. Nein, wusste er, er zwang ihr eine Metamorphose auf, die ihr half zu überleben.
Alva hatte sich der Melancholie hingegeben und Stine war hart geworden, erschöpfte sich in ihrer Suche nach Hoffnung, die sie in menschengemachter Musik nicht finden würde. Selbst Birk war verloren, verloren im Dunst halluzinogener Trugbilder, die ihm Macht und Märchen vorgaukelten, für kurze Zeit die Synapsen seines Geistes mit den Lebensadern der Erde verknüpften.

Tjure hatte sich nie für besser als die Menschen gehalten. Als er seine Mutter an einen Kunstsammler verlor, begann seine Zeit der Beobachtung und seine Faszination für das, was er gelernt hatte, Technik zu nennen, die Unmagie.
Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, Kleider machen Leute, der frühe Vogel fängt den Wurm, ohne Fleiß kein Preis, der Zweck heiligt die Mittel, wer zuerst kommt, mahlt zuerst, Wissen ist Macht … Er hatte sie verstanden, die Sprache der Menschen, und alles daran gesetzt, sie sich zunutze zu machen. Er hatte Freundschaften geschlossen mit den Bewohnern der Gossen und Dächer, hatte Netze gewoben, deren Fäden er in der Hand hielt. Bis es schließlich so weit war, dass sich Fliegen darin verfingen. Seine Welt hatte ihre Ordnung wiedergefunden. Doch es erforderte Geschick und Wachsamkeit, sie aufrechtzuerhalten. Tjure hatte gelernt, dass er immer einen Schritt voraus sein musste, um an keiner Brücke zu verweilen, dass er nie zurückzublicken durfte, um nicht zu Stein zu erstarren.

Es war der 21. Juni und an der Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Die Quaste an Tjures schlankem Schwanz zuckte erwartungsvoll, als er sich daran machte, das Häuschen der Bahnüberführung zu erklimmen. Wer es heute Nacht passieren wollte, musste einen Preis zahlen. Und in dieser Nacht würden viele kommen, zu dem Vagabunden auf dem Bahnsteig und seiner verführerischen Flöte. Sie würden aus den Zügen strömen und sich wie Fische in seinem Netz verfangen. Seine Magie war stark, er musste ihr nur erlauben, sich anzupassen.


(c) Aileen Kopera

6 Kommentare

    1. Freut mich außerordentlich, dass es dir gefallen hat! Ich bin ganz stolz. :) Denn wer weiß, ob jemand die Geschichte überhaupt schon mal zu Ende gelesen hat. Für das Internet ist der Text ja fast zu lang …

        1. Hm, nein? Vielleicht ja doch. Mich würde ja sehr interessieren, was du in die Geschichte hineininterpretiert hast. Und dann kann ich dir verraten, was ICH mir dabei gedacht habe. :)

          So ganz ohne Eitelkeit muss ich auch sagen, dass ich die Sprache dieser Geschichte sehr mag. Ich habe das Gefühl, dass ich Kurzgeschichten sprachlich konzentrierter und präziser schreibe als meinen Roman. Ich überlege manchmal, ob ich nicht jedes Romankapitel als eigene Kurzgeschichte behandeln sollte. Aber dann ist das Schöne an Romanen ja auch die ausführliche Erzählweise. Ich zumindest verliere mich gerne darin, lesend wie schreibend.

          1. Ich hatte es als eine Elfengeschichte gelesen. Von Baumelfen, die sich in der Menschenwelt wie Menschen bewegen können. Dann kam der letzte Absatz und Tjure hat einen Schwanz. Das hat mich verwirrt. Dann musste ich an Shakespeares Sommernachtstraum denken. Und ich habe die Geschichte in derselben Kategorie angesiedelt. Eine Mittsommergeschichte zwischen Magie und Traum.

            1. Aber dass Elfen einen Schwanz haben, muss dich doch nicht verwirren. :) Genau genommen habe ich mir Tjure als Troll vorgestellt, dessen Brücke die Bahnüberführung ist. Aber ich gebe zu, ich wollte es nicht zu offensichtlich machen.
              Die Feenwesen/Fabelwesen wurden aus ihrer Heimat vertrieben und versuchen ihr Glück in der Großstadt. An Mittsommer verwischt bekanntlich die Grenze zwischen den Welten und die Magie hat ihren Auftritt, genau wie bei Shakespeare. Das ist die vordergründige Interpretation. Aber hat Magie noch einen Platz in unserer Welt? Etwas tiefer betrachtet sind Tjure und seine Freunde wie wir Menschen, einsame Existenzen in der Großstadt mit ihren Träumen und ihrem Scheitern und einer unbewussten Sehnsucht nach etwas Magischem in der technisierten Welt.

              Das war meine Intention für die Geschichte, weil mich das Thema immer wieder beschäftigt, aber ich habe nie erwartet, dass jemand genau das darin sieht. Obwohl das natürlich toll wäre. Deine Gedanken haben ja schon den richtigen Weg eingeschlagen: Diese magische Stimmung zwischen Traum und Wirklichkeit in Shakespeares SOMMERNACHTSTRAUM passt sehr gut und ist vermutlich das, was die Protagonisten sich erhofft hatten, als sie unter die Menschen gingen. Jetzt ist davon, außer bei Tjure, nur eine bedrückende Erinnerung geblieben.

              Puh, ich hatte gar nicht vor, so ausführlich zu werden. Aber man plappert ja bekanntlich am liebsten über sich selbst bzw. über die eigenen Produkte. :)

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