JONATHAN STRANGE & MR NORRELL: Auf feenhaften Abwegen

Neil Gaiman sagt auf meiner Ausgabe von Susanna Clarkes JONATHAN STRANGE & MR NORRELL: „Unquestionably the finest English novel of the fantastic written in the last seventy years.“ Als ich das Buch zuschlug und benommen versuchte, meine Gefühle zu ordnen, konnte ich ihm nur Recht geben.

Die Profession des Zauberers ist eine äußerst respektable Beschäftigung für die Herren der Oberschicht im England des 19. Jahrhunderts: In elitären Kreisen versammeln sich ernsthafte Männer, um in endlosen Diskussionen und hochakademischen Essays der Natur der Magie auf die Schliche zu kommen – doch ihre Wissenschaft bleibt eine theoretische. Seit hunderten von Jahren hat es keinen praktizierenden Zauberer mehr gegeben. Ganz britischer Pragmatismus hat man sich damit abgefunden, dass die Situation so ist, wie sie ist.Jonathan Strange & Mr Norrell

Umgeben von einer umfangreichen Bibliothek und seinem einzigen Diener lebt Gilbert Norrell zurückgezogen auf dem Land. Er ist der einzige Zauberer des Landes, der nicht nur über Magie referiert, sondern sie auch anwendet, doch hütet der kauzige Sammler magischer Bücher eifersüchtig sein Wissen. Als Gerüchte und Misstrauen seinen Fähigkeiten gegenüber sich in London verbreiten, fühlt er sich gezwungen, sein Einsiedlerdasein aufzugeben und sein Können unter Beweis zu stellen.
Der Ansturm auf Mr. Norrells Zauberkünste ist gewaltig. Bald schon kann er sich vor Aufträgen kaum mehr retten. Er schreckt sogar nicht davor zurück, einen Pakt mit einer Fee einzugehen, um eine junge Frau von den Toten zurückzuholen. Es ist diese unüberlegte Handlung, deren weitreichende Folgen Mr. Norrell sein Leben lang verfolgen werden.
Über Umwege lernt er den jungen charmanten Jonathan Strange kennen, den ein vermeintlicher Zufall auf die Idee brachte, die Zauberei zu erlernen. Er zeigt erstaunlicherweise viel Talent und von da an ist es nur eine Frage der Zeit, bis er und Mr. Norrell aufeinander aufmerksam werden. Zunächst können sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Naturelle wenig miteinander anfangen, doch ihre beiderseitige Leidenschaft für die Zauberkunst bringt sie zusammen, und Strange wird Norrells Schüler. Irgendwann aber, wie sollte es anders sein, überflügelt jeder talentierte Schüler seinen Meister. Jonathan Strange beginnt, von Neugier und Wissensdurst getrieben, auf dunkleren und ursprünglicheren Pfaden der Magie zu wandeln, die ihn immer wieder auf die Spur des legendären Rabenkönigs führen …

Gut Ding braucht Weile

Nach einem ausgedehnten Auftakt, der sich über Jahre im Leben von Norrell und Strange erstreckt, kommen die Dinge ins Rollen, die sich über etliche Buchseiten in aller Gründlichkeit aufgebaut haben. Wer nicht sofort den Zugang zu JONATHAN STRANGE & MR NORRELL findet, wie ich es glücklicherweise tat, braucht einen langen Atem.
Aber die Belohnung ist reich: Welch ein Buch, welch ein Buch! Es fällt mir schwer, meine Eindrücke geordnet widerzugeben, weil es mich auf so viele Weisen gepackt hat, inhaltlich wie emotional.

Ist es die Sprache, eine Mischung aus Jane Austen, Charles Dickens und doch wieder ganz eigen? Die auktoriale Erzählstimme ist dominant und mit dieser speziellen britischen „wittiness“ gespickt, dass es eine Lesefreude ist. Ist es das Setting, die romantische Atmosphäre des viktorianischen Englands, wo Feen und Geister an jeder Ecke zu lauern scheinen? Oder ist es die schillernde Vielfalt origineller Figuren, die Clarke mit wenigen Worten präzise und realitätsgetreu zeichnet? Vor allen Dingen ist es die Geschichte an sich, all die kleinen Details und Ereignisse, die sich auf verblüffende Weise miteinander verknüpfen und auf ein fulminantes Ende hinführen, wie es einem Buch dieses Ausmaßes gebührt.

Besonders beeindruckt hat mich der Weltenbau von JONATHAN STRANGE & MR NORRELL, die Verflechtung der Magie mit dem Reich der Feen, der mysteriöse Rabenkönig und die bis ins letzte Detail durchdachten Exkurse in den zahlreichen Fußnoten zur Geschichte und Wissenschaft der englischen Magie. Susanna Clarke hat zehn Jahre an ihrem Roman geschrieben, das ist nicht zu übersehen. Kritiker beklagen – möglicherweise berechtigt – den immensen Umfang des Romans, für Liebhaber wie mich braucht die Geschichte genau diese Zeit und das Ausmaß an Worten, um ihre Wirkung in Gänze zu entfalten.

Ein neuer Stern an meinem Literaturhimmel

Und wenn das nicht schon genug wäre, um mir ein höchst unterhaltsames und anspruchsvolles Lesevergnügen zu bereiten, setzt Susanna Clarke noch einen drauf. Vielleicht ist es nur mein persönliches Empfinden und ganz bestimmt hatte es etwas mit meiner emotionalen Verfassung in dieser Zeit zu tun, aber je weiter der dramatische Höhepunkt gen Ende anstieg, umso mehr zog mich die Geschichte nicht nur in ihren Bann, sondern berührte mich immer tiefer. Das, was Jonathan Strange auf seinen Abenteuern durchlebt, während er die Grenzen der Magie und seines Verstandes austestet, hat mein Leserherz bewegt, wie schon lange kein Buch mehr. Ich muss auf das Wie und das Warum nicht näher eingehen, die Gründe sind für die Allgemeinheit uninteressant, nur so viel sei gesagt: Ich habe JONATHAN STRANGE & MR NORRELL in meinen Literaturhimmel emporgehoben. Dieses Buch ist unzweifelhaft einer der ganz großen Würfe der phantastischen Literatur, ganz egal, welche Schwächen es hat oder angeblich hat. Für mich ist es ein literarischer Meilenstein und in seiner Erzählkunst ein schriftstellerisches Vorbild.

Manchmal da hole ich das Buch von meinen Literaturhimmel herunter, halte dieses ramponierte Exemplar in den Händen und rufe die Erinnerungen wach, die mich sofort wieder überwältigen. Ich erwäge ernsthaft, es mir ein zweites Mal zu kaufen, als Sammlerstück sozusagen, und vielleicht noch in der deutschen Übersetzung, als Vergleichsobjekt sozusagen. Ich bin schon jetzt wahnsinnig aufgeregt, es ein zweites Mal zu lesen!

Noch eine Lobeshymne auf JONATHAN STRANGE & MR NORRELL, die die Frage aufwirft, warum dieses Buch nicht den erwarteten Einfluss auf die Fantasyszene hat (auf Englisch): http://www.tor.com/blogs/2014/01/what-makes-this-book-so-great-jo-walton-jonathan-strange


Susanna Clarke. Jonathan Strange & Mr Norrell.
Bloomsbury, 2004.

13 Kommentare

    1. Auf Englisch sogar schon 2004! Den Titel kenne ich gefühlt auch schon so lange. Bis ich es mir kaufte, vergingen aber noch einige Jahre und bis ich es endlich las … Tja. Aber irgendwie kam es gerade zum rechten Zeitpunkt, das ist auch cool. :)

  1. Ich habe es immer noch nicht gelesen, obwohl mein Mann mich mit schöner Regelmäßigkeit bedrängt, und ich eigentlich wahnsinnig gespannt darauf bin. Aber andererseits ist es so schön, ein Buch im Schrank stehen zu haben, von dem ich weiß, ich werde es lieben (wenn ich es denn endlich lese)…
    Besagten Mann (der tatsächlich zwei Ausgaben besitzt) habe ich wahnsinnig glücklich gemacht mit dem schmalen Erzählband „The Ladies of Grace Adieu“, der auch in der Welt von Jonathan Strange & Mr. Norrell spielt – falls Du den nicht sowieso längst kennst.

    1. Na, hoffentlich geht das nicht nach hinten los und all die aufgestaute freudige Erwartung endet in Enttäuschung. Aber ich denke, du wirst schon einigermaßen darauf gefasst sein, was dich mit dem Buch erwartet. :) Wär je ne ideale Lektüre zur Weihnachtszeit, wenn du mich fragst.

      Von den LADIES OF GRACE ADIEU habe ich nur gehört, aber jetzt überlege ich, einen Weihnachtswunsch zu äußern und mich ebenfalls glücklich damit machen zu lassen. Oh ja.

      1. Das stimmt, sowas passiert mir hin und wieder, und das wäre natürlich schade. Mal schauen, vielleicht versüße ich mir ja wirklich die Adventszeit damit. Eigentlich wollte ich ja den hohen Stapel auf meinem Nachttisch abbauen, aber andererseits ist es ja blödsinnig, sich so einzuschränken.

  2. Das Buch steht auch schon länger auf meiner to-read-Liste. Die wird auch nicht gerade kürzer. Aktuell lese ich ja fast nur noch im Flugzeug, von punktuellen kurz-vor-Knockout Leseversuchen abgesehen. Erschreckend wenn ich mein Buch Pensum in diesem Jahr mit dem von vor drei Jahren vergleiche.

    Worauf ich dich eigentlich aufmerksam machen wollte ist das hier: https://www.creativelive.com/courses/sell-your-first-1000-books-tim-grahl
    Das wird vom 7. Bis zum 9. Dezember(PST) wiederholt (oben auf das „Watch now free“ klicken und auswählen), heißt, das fängt irgendwann vorne an und läuft dann auf Rotation. Ich habe den Workshop nie gesehen und kann nichts zur Qualität sagen, aber eventuell interessiert es dich ja. Veröffentlicht hast du ja schon.

    Ich wünsche dir einen erfreulichen Advent.

    1. Ach, ich bin immer unendlich zu spät dran für deine Tipps! Wie ärgerlich. Ich nehme mir hiermit vor, die Seite regelmäßiger zu besuchen.
      Du bist immer so gut informiert, sag mal, wie siehts denn mit dir und der Schreiberei aus? Irgendwelche Projekte?

      Es klingt, als würde der Herr Finkelmeier viel Zeit in der Luft verbringen. Steckt was Spannendes dahinter? Na, du verrätst es bestimmt nicht. :) Ich komme hauptsächlich im Bus zum Lesen und da wird mir schlecht. Mein Pensum ist also auch miserabel. Für STRANGE & NORRELL brauchst du einen wachen Geist und Energie, das ist kein Buch für Busfahrten oder Kurz-vor-Knockout. Sag Bescheid, falls du mal damit starten solltest!

      1. Hängt davon ab, was dich interessiert. Die Kerngebiete von CL sind Photo & Video, Art & Design, Music & Audio, Craft & Maker und Money & Life. Gerade das letzte ist so eine Wischiwaschi-Kategorie, in die man praktisch alles reinpacken kann.
        Ich schaue vor allem Fotografie-Sachen, als nächstes Studio Photography 101 in knapp 2 Wochen, aber es gibt auch andere Kurse die ganz interessant sind, wie z.B. Körpersprache oder wie man leicht Sprachen lernt.
        Im Zweifel schlag einfach selbst was vor, dass du lernen möchtest. Vielleicht klappts ja: http://creativelive.com/suggest
        Wenn ich weiß, was dich generell interessiert kann ich dir womöglich was empfehlen. Ich habe nach rund anderthalb Jahren Konsum einen ganz guten Überblick.

        In Sachen Schreiberei ist dir nichts entgangen. Ich glaube nicht dass ich noch was geschrieben habe, was du noch nicht gesehen hast. Habe lediglich mal etwas ins Englische übersetzt. Mein Fokus liegt inzwischen mehr auf dem Visuellen. Ich schließe nicht aus irgendwann mal wieder etwas zu schreiben, aber geplant ist nichts.

        Mit dem Verraten habe ich kein Problem, aber mit den Details. Ich nutze kein Social Media und finde es auch recht angenehm, dass man mich nicht wirklich googlen kann. Von daher bevorzuge ich Kommunikationswege außerhalb des Zugriffs von Suchmaschinen.
        So spannend ist es aber auch nicht. War eben beruflich das letzte Quartal viel in der Luft. Bin mir nicht sicher ob ich in der ersten Jahreshälfte überhaupt das Flugzeug benutzt habe. So eine ordinäre Straße erfüllt ja auch ihren Zweck.

        Danke für den Tip, dass ich für Strange & Norell einen wachen Kopf benötige. Bin mit dem Cloud Atlas so gut wie durch und habe schon darüber nachgedacht, was als nächste kommt. Vielleicht ein Crichton oder 25th hour. Mit Benioff kann ich ja nicht so viel falsch machen.

      2. Auf die Gefahr hin, dass du das niemals lesen wirst: Bescheid, ich bin auf etwa Seite 80.

        Der eigentliche Hauptgrund, warum ich auf die Seite zurück kehre ist dieser hier, schließlich wollte ich die Augen offen halten:

        https://www.creativelive.com/writing-week-2018

        Writing Week vom 15. Januar bis 19. Januar 2018. Scroll runter und klick auf den „Classes“ tab, um zu sehen, ob da was für dich dabei ist.
        Ich habe zwar den leisen Verdacht, dass du diesen Hinweis aufgrund der Arbeit an deinem vierten Roman nicht sehen wirst, aber im Zweifel kannst du es ja einfach auf die fünf Kinder schieben, die Zwillinge sind zweifellos eine enorme Ablenkung.

        Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr.

  3. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass meine beste Freundin mir das Buch schon vor JAHREN geschenkt hat, und ich habe es immer noch nicht gelesen. Irgendwie finde ich nie so den rechten Einstieg; ich glaube, es ist eines dieser Bücher, die nur auf den richtigen Moment warten, um mich dann von den Füßen zu fegen. :-)

    1. Ich würde spontan sagen, einer besten Freundin kann man in solchen Dingen vertrauen. :)

      Du hast dein Lesejahr 2015 ja schon recht voll gepackt, deshalb will ich dir STRANGE & NORRELL gar nicht aufdrängen. Wenn du das Gefühl hast, der richtige Moment dafür wird noch kommen, dann kommt er mit Sicherheit. Und wenn es so weit ist, würde es mich natürlich freuen, zu hören, dass dich das Buch tatsächlich von den Füßen gefegt hat. :D

  4. Steht seit Jahren in meinem Schrank, gelesen bis ca. Seite 102…..ich werde es wohl nochmal versuchen, nachdem ich deine Lobeshymne gelesen habe, will ja mitreden können ;-)

    Danke für die tolle Rezension.

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